So im Großen und Ganzen geht es uns Menschen ja ziemlich gut. Also zumindest in den hoch entwickelten Industrienationen. Dann können wir Kriege, Armut, Menschenrechtsverletzungen und Freiheitsberaubungen, wie sie derzeit bspw. in Belarus stattfinden (siehe auch: Antonio Guterres: UN-Generalsekretär „zutiefst besorgt“ über Situation in Belarus), mal salopp ausblenden. Also zumindest wir „Reichen“ und Privilegierten dieser Welt, die wir uns im Genuss des Wohlstandskapitalismus, wie ich immer sage, befinden. Wir hätten doch – fast – nichts zu meckern. Wir befinden uns am Ende der Nahrungskette, unsere Kühlschränke sind gut gefüllt, mit Tieren oder Pflanzen, schön mundgerecht und bekömmlich zerlegt und zubereitet.
Wenn ich mich heute auf den Marktplatz stellte und schreiend postulierte: „Die Würde des ethisch-intelligent handelnden KI-Systems ist unantastbar!“. So befände ich mich ganz klar in der Minderheit. Die meisten würden mich auslachen, gar keine Notiz von mir nehmen oder mich für einen Spinner halten. Jetzt schauen wir mal 100, 200 oder 500 Jahre weiter (in Bezug auf die Evolution sind das so oder so nur ein paar Tröpfchen Zeit). Sollten wir dann noch einen Marktplatz haben und sich ein Mensch finden lassen: Mutig schreitet er zum Rednerpult. „Die Würde des Menschen ist unantastbar!“. Es könnte sein, dass er, unser Mensch von 2220, sich in der Minderheit befindet. Nicht weil die anderen Menschen um ihn herum alle ganz böse sind, sondern weil die ihn umgebenden Soziogenten keine Menschen, sondern Kisos, also künstlich-intelligente Soziogenten sind. Heute werden sie auch als „humanoide Roboter“ bezeichnet. Naturgemäß gefällt mir mein eigener Begriff, Kiso, besser. Die ganzen Kisos um diesen Menschen herum, groß und klein, jung und alt, sind entsetzt und wundern sich: „Was will dieser Mensch, dieses sonderbare, auf der Evolutionsleiter zurück gebliebene, nahezu unintelligente Wesen?“. In der von mir skizzierten Welt der Überevolution (Über-Evolution) und dem Untergang (Unter-Gang) der Menschheit würde dies Szenario 1 darstellen.
Was bedeutet überhaupt „Würde“? Der Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant (1724-1804), sprach von der „Würde des Menschen“ und (versus) von dem „Wert der Tiere“. Im religiösen Sinne scheint es ebenfalls so zu sein, dass allein Menschen das Privileg einer Würde haben. Würde würde abhängen von Begriffen wie Bewusstsein und Seele. „Seele“ ist diffus. Wobei auch „Bewusstsein“ zumindest zukünftig schwerer nachzuweisen sein wird, was uns zum Turing-Test und Roth-Test (Test auf Mensch-Sein und Test auf Ethische Intelligenz) zurück führt.
Im Artikel Haben Tiere Würde? zitiert der Theologe Dr. Wolfgang Fenske die Philosophen Aristoteles (384-322 v. Chr.) und René Descartes (1596-1650) mit der Nennung einer „abgestuften Seele“ bei Tieren und Pflanzen und einer „Sache“ bei Tieren. Die Vorstellung von Tieren als Sachen konnte bis in das heutige deutsche Rechtssystem nicht komplett gekippt werden. Die Novellierung Bürgerliches Gesetzbuch Paragraph 90a Tiere scheint ein wenig halbherzig und ambivalent:
„Tiere sind keine Sachen. Sie werden durch besondere Gesetze geschützt.
Auf sie sind die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden,
soweit nicht etwas anderes bestimmt ist.“
Das ist ein bisschen wie: Verbrenner oder elektisch? – Plug-in-Hybrid!
Mit meiner Philosophie (Prinzip, Paradigma) der Ethischen Intelligenz verfolge ich einen anderen Ansatz und gehe einen Schritt weiter. Ich unterstelle, dass jeder Soziogent, also jedes – möglichst ethisch-intelligent – sozial agierende oder interagierende Wesen eine Würde hat oder diese vom Menschen zugeschrieben werden kann. Insbesondere zählen Pflanzen und Tiere dazu. Wenn der Förster demnächst einen Baum fällt, dann sollte er dafür schon einen guten Grund haben. Natürlich können und müssen wir hier Graduierungen vornehmen in Richtung Bewusstsein oder zumindest Autarkie. Das macht auch Sinn, wenn wir bei uns Menschen beginnen. Wenn wir uns z. B. einfach nicht mehr gegenseitig umbringen. Sobald wir das geschafft haben, oder besser schon heute parallel, sollten wir uns Gedanken darüber machen, inwieweit wir Tiere in der Massentierhaltung extremen Lebensbedingungen aussetzen, ehe sie bei uns auf dem Mittagstisch landen. Die Religion sagt, Menschen kommen in den Himmel (nur ihnen wird die Existenz von Seele und Würde unterstellt), Tiere jedoch nicht. Aber hallo. Wenn ich schon in den Himmel kommen sollte, dann würde ich doch sehr gerne meine Hauskatze mitnehmen. Anderenfalls spiele ich nicht mit! Pah.
Mit Überevolution bezeichne ich die technologische Evolution, aktuell in Form einer Revolution, die als Folge der biologischen Evolution auf unsere Erde sichtbar wird. Sowohl die Menschheit als auch die übrigen Soziogenten auf dem Blauen Planeten stehen vor einer ungewissen Zukunft. Mit „Szenario 1“ und „Szenario 2“ (siehe Bild oben) zeige ich zwei Visionen oder mögliche Versionen der Zukunft auf. Es sind Pole. Die Frage wird sein, welcher davon wird sich bewahrheiten, oder welche möglichen Graduierungen dazwischen wird es geben?
Während bei Szenario 1 eine völlige Entkopplung künftiger KI-Systeme (Kisos) vom Menschen (Misos) stattfinden wird, bei der der Mensch komplett ausstirbt („untergeht“) oder sich noch als „Nutz-Soziogent“ im Sinne der heutigen Schweine in der Massentierhaltung „glücklich“ schätzen darf, kommt es bei Szenario 2 zu einer Art Wettbewerb zwischen den Spezies Kiso und Miso, der im Idealfall mit einer Verschmelzung beider zum Hiso (hybrid-intelligenten Soziogenten) endet. Elon Musk (geb. 1971) arbeitet mit seinem Unternehmen Neuralink und dem sogenannten Brain Machine Interface (BMI) bereits daran. Siehe die Artikel Mensch-Maschine-Schnittstelle: Das hat Elon Musk mit Neuralink schon erreicht und Elon Musk unveils Neuralink’s plans for brain-reading ‘threads’ and a robot to insert them.
Elon Musk verfolgt einen sehr technologischen Ansatz. Mein Ansatz ist hingegen eher philosophischer Natur, der aber grundsätzlich in neuen Technologien eine Senke und Umsetzung finden kann. In dem aktuellen Beitrag, Künstliche Intelligenz: langer Weg, bis sich Mensch und Maschine finden, wird Bezug genommen auf das Buch „Digitaler Wandel und Ethik“, Herausgeber Markus Hengstschläger (geb. 1968), ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des österreichischen Rates für Forschung und Technologieentwicklung. Neben 26 weiteren Autorinnen und Autoren kommt im Buch die Philosophin Anne Siegetsleitner (geb. 1968) zu Wort:
„eine gewisse Neigung von Menschen, Verantwortung an
zu sehr vermenschlichte KI-Systeme abzugeben“
Meiner Meinung nach geht es nicht um Vermenschlichung von KI-Systemen, sondern um die Schaffung eines Prototypes der Ethischen Intelligenz. Nein, wir Menschen sind nicht das Vorbild. Hier und da: ja. Dort und woanders: nein. Also könnten und sollten sowohl Menschen als auch die anderen sozial interagierenden Systeme auf der Erde in eine Richtung kleinster gemeinsamer ethischer Nenner arbeiten. Im genannten Buch spannend finde ich zumindest die Idee von gemeinsamen Mensch-Maschine-Teams.
In meiner Philosophie der Ethischen Intelligenz habe ich den Begriff der Soziogenten geschaffen, weil die Intelligenz-Hybris, aber auch die Idee von vermeintlich einzigartigen Fähigkeiten des Fühlen, des Emotionalen, des Originären so langsam zu bröckeln beginnen. Ich spreche mich aus für weniger Überheblichkeit, im Gegenzug ein Mehr an Selbstbewusstsein und Bewusstsein in Sachen Ethik! Informatikerinnen und Philosophen sprechen heute von der „Menschenzentriertheit“. Wenn das bedeutet, mehr Menschlichkeit: Sehr gerne. Doch im globalen Kontext gibt es auch Tiere, gibt es Pflanzen und schon bald möglicherweise autark agierende künstlich-intelligente Systeme. Die alte Logik, dass wir am Ende der Nahrungskette stehen, weil wir die intelligentesten Wesen auf der Erde sind, könnte bald nicht mehr funktionieren. Daher muss eine neue Logik her. Eine Logik, die auch Computer verstehen. Und die gleichfalls für intelligente „Maschinen“ einleuchtend sein wird, wenn ihre Bewusstseinsdämmerung naht.
Viele Menschen haben heute Angst davor, angesichts der aktuellen Computer- und Technologieentwicklung in Zukunft komplett an Bedeutung zu verlieren. Die Sorge ist nicht unberechtigt. Nur die Mittel, wie wir zum Teil darauf reagieren, sind m. E. nicht adäquat. Die deutschen Philosophen der Gegenwart, Julian Nida-Rümelin (geb. 1954) („Digitaler Humanismus“) und Richard David Precht (geb. 1964) („Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens“) sind sich ihrer Sache so sicher, dass KI wie auch die Technologien zuvor, immer nur Werkzeug des Menschen bleiben wird. Mit genau dieser Ideologie könnten KI-Systeme der Zukunft irgendwann den Spieß umdrehen. Dann würden Menschen zu Werkzeugen der Künstlichen Intelligenz degenerieren. Und wenn sie zufälligerweise Appetit auf Menschenfleisch haben, verspeisen sie uns zum Frühstück.
Allerdings beobachten wir im Moment zwei parallele Entwicklungen. Auf der einen Seite die Tendenz von Computern hin zu immer intelligenteren Systemen. Andererseits geht der Mensch den Weg hin zu einer zumindest theoretischen Unsterblichkeit. Irgendwann wird jedes, und wenn ich jedes sage, dann meine ich jedes, also jedes Organ des Menschen ersetzbar sein. Zunächst sprechen wir ethisch-philosophisch sanftmütig davon, dass bald alle Krankheiten des Menschen geheilt sein werden. Das wäre super. Aber glaubt jetzt jemand ernsthaft daran, dass sich die Überevolution einem Stop-Schild gegenüber sieht? Über Dekaden, spätestens die kommenden Jahrhunderte, münden beide parallele Entwicklungen in den Hiso, den hybrid-intelligenten Soziogenten. Diese Entwicklung muss von der Idee der Ethischen Intelligenz begleitet sein, um Szenario 2 zu erfüllen. Anderenfalls könnte es ein bitteres und tragisches Ende unserer Spezies Mensch geben. So oder so wird in 500 Jahren der Mensch nicht mehr der Mensch von heute sein. Das ist insofern auch bemerkenswert, da sich der Mensch z. B. vom Jahr 1000 bis zum Jahr 1500 weit weniger verändert hat, als er sich vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2500 verändern wird. In den kommenden 500 Jahren werden wir regelrecht bombardiert werden mit Chancen und Risiken. Wenn es uns, dem Menschen, und zukünftig in stärkerer Kooperation mit anderen Soziogenten, gelingt, Technologieentwicklung nicht als ständigen Selbstläufer zu betrachten, sondern stets mit ethischen Fragen zu begleiten, so könnten am Ende die Chancen überwiegen und unsere Nachfahren auch dann noch eines Tages aufwachen und sagen: „Guten Morgen, Du schöner blauer Planet!“.
Bild und Text: Michael M. Roth, MicialMedia
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