Islamisches Opferfest versus Fest der Solidarität

Vom 27.6. bis zum 1.7.23 feiern Muslime das Opferfest ( عيد الأضحى ). Aber ist das überhaupt noch zeitgemäß? Sind die wahren Opfer nicht die Tiere, die wir Menschen töten, um sie zu verzehren? Diese Frage stellt sich besonders beim im Islam traditionellen Schächten, das in Deutschland allerdings grundsätzlich verboten ist. Abgesehen von verschiedenen möglichen Varianten wird dem Tier, z. B. einer Kuh, die Kehle durchgeschnitten. Es verblutet. Eine Betäubung ist bei dieser Tradition nicht vorgesehen.

Und wenn wir an das Gute denken, das Beschenken von Freunden, die Ernährung der eigenen Familienmitglieder durch das geschlachtete Vieh oder auch Unterstützung durch Geldspenden, die wohl teils die alte Tradition ablöst – wäre es nicht besser, dann von „Solidarität“ anstelle von „Opfer“ zu sprechen?

Ich möchte vorwegschicken, dass es nicht mein Anliegen ist, Muslimen „Böses“ zu unterstellen, eine schlechte Intention. Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Der Sinn des Opferfestes ist auf der einen Seite das absolute Vertrauen zu Gott, Hingabe, vielleicht aber auch eine Art der Unterwerfung, Gehorsamkeit. Darüber hinaus soll den Mitmenschen geholfen werden. Das Opferfest fördert den Zusammenhalt der Muslime, der Community, wie wir heute sagen würden. Menschen, Familie, Nachbarn, Freunde, um sie geht es.

Doch was ist der Ursprung des Opferfestes? Ibrahim (Abraham), der als Vater der Religionen des Islams, Judentums und Christentums gilt, sollte gegenüber Gott ein Opfer bringen. Nicht mehr und nicht weniger als seinen Sohn (!). Ibrahim war bereit, dies zu tun, bis kurz vor der Tat Gott seinen Wunsch (seinen Befehl?) zurück nahm.

Allein die reale Begebenheit der Geschichte dürfte wissenschaftlich kaum verifizierbar sein. Und selbst wenn man annimmt, dass es einen Gott gibt, dann stellte sich die Frage: Wie kann man überhaupt so einen Akt der Unmenschlichkeit von einem Menschen fordern?

Man stelle sich vor, ein Vater würde von seinem Sohn fordern: „Spring zum Fenster hinaus. Du bist mein Sohn und hast mir zu gehorchen“. Erst im letzten Moment würde der Vater den Sprung des Sohnes aus dem Fenster verhindern. Unter heutigen ethischen Gesichtspunkten müsste der Vater dafür ins Gefängnis gehen. Es käme einem Kindesmissbrauch gleich. Allein die Androhung eines solchen „Opfers“. Das Opfer wäre das Kind selbst.

Es gibt viele Dinge, die Menschen einst für richtig hielten, später davon abkamen. Z. B. wird heute kein Mensch mehr auf dem Elektrischen Stuhl getötet. Idealerweise würden wir heute überhaupt niemanden mehr töten. Selbst wenn sich ein Mensch strafbar gemacht hat. In fast allen europäischen Ländern wurde die Todesstrafe abgeschafft. Wir haben gelernt.

In Artikel 1 des Grundgesetzes steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Ich würde hinzufügen: „Die Würde der Soziogenten ist zu bedenken!“. Mit Soziogenten sind alle Lebewesen auf dem Planeten Erde (im Prinzip im Universum) gemeint, in Zukunft könnten hier auch künstlich-intelligente Systeme hinzu kommen.

Ein Bereich ist also auch das Tierwohl.
Vegetarier und Veganer haben ihre Punkte und Argumente.
Ich sehe es als einen Lernprozess des Menschen an, nicht nur das eigene Wohl zu betrachten, sondern auch das Wohl seiner Umwelt. Die heute in Industrieländern anzutreffende Massentierhaltung stiehlt dem Planeten viele Ressourcen und konterkariert jede mögliche Form von Tierwohl.

Indem wir bspw. weniger Fleisch essen, können wir sukzessive die Welt Stück für Stück besser machen.

In der Tradition waren tatsächlich die geschächteten Tiere das Opfer, der Mensch höchstens mittelbar, weil er eigene Mahlzeit mit anderen teilte. Als moderne, aufgeklärte Menschen können wir, und das ist mein Vorschlag, allerdings den Begriff des „Opfers“ oder „Opfertums“ ersetzen durch den Begriff der Solidarität. Das geschlachtete Vieh kann dabei mehr und mehr aus dem Zentrum dieser Feiertage gerückt werden. Wie ich las, sind heute auch viele Muslim:innen Vegetarier oder Veganer. Sie sollten sich dafür frei entscheiden können.

„Opfer“ ist ein negativer Begriff. Jemand muss leiden.
Anders verhält es sich bei „Solidarität“. Das ist ein positiver Begriff.
Wenn ich andere Menschen unterstütze, sei es, indem ich mit ihnen mein Essen teile oder ihnen finanziell helfe, dann kann sich selbst davon profitieren in einem ideellen Sinne. Es ist ein anderer psychologischer und konzeptueller Ansatz.

Warum also nicht folgende Umbenennung?

Alt: Opferfest
Neu: Fest der Solidarität

Traditionen können etwas Wunderbares sein. Wir sollten allerdings im Hinterkopf behalten, dass sich der Horizont des Menschen über die Jahrhunderte und Jahrtausende seiner Entwicklung geweitet hat. Seit der Erfindung des Faustkeils vor knapp zwei Millionen Jahren haben wir unser Tun und Handeln, auch zahlreiche unserer Riten tausendfach verändert, erneuert, abgeschafft, ersetzt. Und das ist grundsätzlich gut so.

Mit dem steigenden Wahrnehmungspotenzial im Zuge des Kognitozäns geben wir uns gleichzeitig eine Chance dafür, dass wir Menschen uns selbst besser verstehen und kennen lernen.

Text und Grafik: Michael M. Roth, im Juni 2023

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