Ethische Intelligenz als volatile und niveauvariable Größe im Spannungsfeld zwischen Fluider und Kristalliner Intelligenz

Intelligenz

Der Begriff der Intelligenz ist schon für sich genommen ein viel, häufig kontrovers diskutierter Begriff. Die Etymologie betrachtet, stoßen wir auf die beiden lateinischen Begriffe „inter“ und „legere“. Das bedeutet so viel wie „wählen zwischen“. Wenn ein Kleinkind sich zwischen Himbeerjoghurt und Erdbeerjoghurt entscheiden muss, die ihm von Mama oder Papa zum Naschen angeboten werden, dann vollbringt es eine auf Intelligenz basierende Entscheidung.

Ethische Intelligenz

Mit dem Sommer 2018 wurde ich der erste Mensch, der die Begriffskombination „Ethische Intelligenz“ im deutschen Sprachraum verwendet und diese systemisch definiert/entwickelt (hat). Nomen est omen: Die beiden Säulen der Ethik und der Intelligenz stützen das Dach und formen das Haus der ganzen Idee, die ich gerne auch als Philosophie oder als ein Paradigma bezeichne.

Die Philosophie der Ethischen Intelligenz ist gekennzeichnet durch (m)ein eigenes Verständnis von Ethik, nämlich einer soziogentischen. Es geht um die Beziehungen Mensch mit 1. dem Menschen, 2. dem Milieu (der Umwelt), 3. dem Mikrokosmus, 4. dem Makrokosmos & last but not least 5. der intelligenten Maschine.

Auf der anderen Seite die Intelligenz, die weit umfassender sein sollte als das Verständnis, welches wir heute von der Intelligenz besitzen. Beide Säulen werden wir zukünftig verstärkt aneinander gekoppelt betrachten müssen, wenn wir unser Schicksal nicht der Eigendynamik der Technologieentwicklung überlassen wollen und tatsächlich bestrebt sind, ein faires Miteinander aller autark agierenden Wesen umzusetzen. Zu nennen sind hier bspw. die Idee einer gerechten Gesellschaft von John Rawls (1921-2002), „Schleier des Nichtwissens“, sowie die Tierethik von Peter Singer (geb. 1946). Doch darüber hinaus gehend die Robotergesetze von Isaac Asimov (1920-1920), die ich heute anders, offener, „soziogentischer“ formulieren würde.

Fluide, Kristalline und Generelle Intelligenz | Mensch vs. Maschine

Nach der kurzen Wiederholung zum Verständnis der Ethischen Intelligenz komme ich nun zu sehr spannenden Begrifflichkeiten im Kontext der Intelligenz. Es geht um Fluide und Kristalline Intelligenz. Die Termini wurden geprägt von Raymond B. Cattell (1905-1998). Die Fluide Intelligenz könnte man vergleichen mit dem Arbeitsspeicher eines Computers. Bis zum Alter von etwa 18 Jahren wird dieser immer größer. Vgl. PC: z. B. 8 GB, 16 GB, 32 GB … immer können wir noch schneller rechnen. Bis zum 19. Lebensjahr könnte sich beim Menschen ein regelrechtes „Nimble Mind“ herausgebildet haben, wir nennen es auch „Schnelldenker“ oder „Schnelldenkerin“. Dann schließlich kommt der „PC“ in die Jahre und der Hauptspeicher hat seine maximale Erweiterung schon erreicht.

Einen Unterschied macht die Kristalline Intelligenz. Sie wäre beim PC die Festplatte oder der Controller bzw. beides im Zusammenspiel. Angenommen wir hatten zu Beginn eine Ressource mit 1 TByte (Harddrive). Doch am Anfang ist die Platte leer. Durch unsere Lebenserfahrung(en) wird sie bespielt. So kann die Kristalline Intelligenz bis in das hohe Alter anwachsen.

Schließlich ist die Generelle Intelligenz die Summe oder das Produkt aus den zuvor genannten Intelligenzarten (fluid, kristallin).

Dazu schauen wir uns eine Grafik an, bei der uns zudem ein Vergleich der Intelligenzarten bei Mensch und Maschine (intelligentem Computer) erwartet.

Bei der Kristallinen Intelligenz fällt auf, dass ihr Verlauf auch durch ein „kulturelles Delta“ bestimmt wird. Man kann dies als eine Schnittstelle zwischen der technischen Fähigkeit des Wissenserwerbes und „Content“, also den Inhalten verstehen. Kristalline Intelligenz bedeutet eben auch, auf gespeicherte (und über Jahre addierte) Daten und Inhalte zugreifen und diese applizieren zu können.

Die Kristalline Intelligenz soll man bis zum etwa 65. Lebensjahr steigern können.

Bei der Gegenüberstellung mit der (intelligenten) „Maschine“ ist bemerkenswert, dass die fluide Intelligenz mit den Jahren nicht nachlässt (solange die notwendigen Energieressourcen vorhanden sind, natürlich). Ebenso wird in Sachen Kristalline Intelligenz die intelligente Maschine den Menschen in nicht allzu ferner Zukunft um ein Vielfaches übertreffen. Im Prinzip sehen wir das heute schon an der Wikipedia. Wobei die Wikipedia „bedingt intelligent“ ist, würde ich sagen. Wissen en masse, aber der „Controller“ bleibt für den Moment noch der Mensch. Denn die Wikipedia weiß selbst mit ihrem Wissen nichts anzufangen.

Bei einer sich stetig selbst optimierenden Maschine würde sogar die Fluide Intelligenz ständig im Wachsen begriffen sein, was zu einem exponentiellen Wachstum der Generellen Intelligenz führte, die irgendwann „gegen unendlich“ ginge. Derzeit sprechen wir im Konjunktiv. Derzeit.

Generelle Intelligenz bei Mensch und Maschine – Das XY der Menschheit

Bereits in einem Artikel vom 12.9.20 sprach ich von der Überevolution und dem Untergang der Menschheit. Hierbei stellte ich das Auseinanderdriften von biologischer und technischer Intelligenz auf der einen und das Verschmelzen beider „Spezies“ auf der anderen Seite als zwei alternative Szenarien dar. In der hiesigen Grafik zeige ich eine sequenzielle Abfolge der Entfernung und der „Wiedervereinigung“. Natürlich können diese Prozesse in der Zukunft auch parallel stattfinden.

Es ist ein bisschen so, als würde man das Wetter für heute in vier Wochen vorhersagen wollen. Wird es regnen oder wird die Sonne scheinen? Die Entwicklung hängt vom Verlauf vieler Variablen ab. Es geht hier eher um das „Klima“, allenfalls eine „Großwetterlage“.

Doch so groß ist die Lage bisher nicht. Künstliche Intelligenz wird eher langsam, aber stetig und mit Macht (Eigendynamik) kommen. Während viele heute eine derartige Diskussion heute überhaupt für überflüssig oder gar kontraproduktiv halten (z. B. Richard David Precht [geb. 1964]: „Einer Maschine kann man keine Ethik zuweisen.“), wird die Diskussion über die Dekaden an Fahrt aufnehmen und an Bedeutung gewinnen. Die Technologien bahnen sich ihren Weg, könnte man sagen. Dabei möchte ich mahnen, die ethischen Aspekte zu hinterfragen.

Ein gewisser Witz liegt in der Sache, dass die Grafik ein X und ein (halb auf den Kopf gestelltes) Y enthält. Das ist auch die Bezeichnung der Chromosomen, auf denen unsere Erbinformationen, der Bauplan des Menschen, gespeichert sind. Sollte es also, einer DNA gleich, das Schicksal der Menschheit sein, etwas zu erschaffen, das sie in Sachen Intelligenz eines Tages (bei weitem) übertreffen wird, und wir dann nicht umhin kommen, uns selbst „upzugraden“? – Ein Vorgang, der im Grunde längst begonnen hat; wenn ich nur an das Mini-Herz aus dem 3D-Drucker der israelischen Forscher denke.


Das Ergebnis wäre der Hiso, ein Hybrid-intelligenter Soziogent, als Produkt aus Miso, Menschlich-intelligenter Soziogent und Kiso, Künstlich-intelligenter Soziogent, in Fachkreisen auch als „Starke Intelligenz“ bezeichnet.

Nach der „technologischen Singularität“ spreche ich nun von einer biologisch-technologischen Singularität (Betrachtung der Entwicklung vom Menschen hin zum Computer) bzw. einer technisch-biologischen Singularität (Betrachtung der Entwicklung vom Computer hin zu Menschen).

Technologie und Ethik – Vermögen und Unvermögen

In den kommenden Dekaden und Jahrhunderten wird der Mensch alle Werkzeuge finden bzw. erschaffen, die erforderlich sind, um einen Hiso „zu bauen“. Was der Mensch in Hunderttausenden von Jahren seiner Entwicklung nicht erreicht hat: Die Schaffung einer Technologie oder eines Werkzeuges, um Werte wie Frieden und Freiheit stringent zu erreichen und zu bewahren. Diese Parallelität von Vermögen und Unvermögen bleibt uns aus der Menschheitsgeschichte bis dato erhalten, und wir schieben sie, wenn man so will, weiterhin vor uns her. Es kann nur Appelle geben, immer wieder nach Lösungen zu suchen, die im globalen Interesse sind. Ein globales Interesse ist Stand heute bspw. Frieden, das bedeutet kein Krieg, auf unserem Planeten. Davon sind wir weit entfernt, auch wenn wir schon einiges in dieser Richtung erreicht haben.

Ethische Intelligenz – volatil und niveauvariabel

Was meine ich mit „volatil“ und „niveauvariabel“? Das Volatile sind die eher kleinen Fluktuationen. In eine Demokratie wird man immer wieder auf Konflikte und Widersprüche treffen. Aber beispielsweise bei uns in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland steht in Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.
Das bedeutet, wir haben einen Anspruch formuliert, für den es rechtliche Rahmenbedingungen gibt. So gibt es in Deutschland, wie in den meisten Teilen Europas, keine Todesstrafe. Selbst einem Straftäter wird (ein gewisser Grad an) Menschenwürde zugeschrieben. Ein Mensch, der andere Menschen misshandelt hat, darf nicht misshandelt werden. Auch wenn das emotional vor allem für Betroffene mitunter sehr schwer ertragbar sein mag.

Dann haben wir Autokratien. Dort unterliegt die Ethische Intelligenz nicht nur kleinen Fluktuationen, sondern sie befindet sich überhaupt auf einem anderen (unteren) Niveau.

Als Teil der Ethischen Intelligenz hatte ich im Unterschied oder in der Ergänzung zu Paul Crutzens (1933-2021) „Anthropozän“ (2001) meine Idee vom Kognitozän ausgerollt – Siehe Artikel vom 4.9.21: Eidechsen-Score, Kognitozän & die Impfung als Lackmustest. Das menschengemachte Zeitalter wollte ich nach dem Disruptozän durch das Kognitozän „befüllen“. Ich glaubte an Wahrnehmung, Vernunft, im Prinzip eine zweite „Aufklärung“ im Sinne und in der Erweiterung von Immanuel Kant (1724-1804).

Und nun spreche ich bei Ethischer Intelligenz von „volatil“ und „niveauvariabel“. Auch wegen des verdammten Krieges Russlands gegen das ukrainische Volk. Ja, das ist emotional. Weil es eben auch verbrecherisch ist. Solange wir Menschen Emotionen haben – und einen Sinn für Gerechtigkeit – muss uns das empören.

Wenn man der Fluiden Intelligenz den Wert 1 gibt, dann würde die Kristalline Intelligenz in autokratischen Staaten bzw. deren Staatsmännern/Staatsfrauen gar einen negativen Wert haben. Selbst die Ethische Intelligenz kommt in der Grafik noch zu gut weg, da sie als additiv betrachtet wird. Im Vergleich zu Demokratien ist ihr Niveau essenziell tiefer liegend.

Die Rolle von Fluider Intelligenz und Kristalliner Intelligenz

Am Ende bleibt für mich die spannende Frage, wie sich Ethische Intelligenz tatsächlich formen und entwickeln kann, auf welcher Basis? Inwieweit ist sie uns bereits innewohnend? Denken wir an miteinander spielende Kinder, deren Fluide Intelligenz sich prächtig, innerhalb nur weniger Monate und Jahre entwickelt. Gehen sie immer fair miteinander um? Wie viel an Ethischer Intelligenz steckt in unseren Genen?

Auf der andren Seite: Unsere Sozialisierung wird einen wesentlichen – positiven oder negativen – Beitrag zur Entwicklung einer gesunden Ethischen Intelligenz leisten. Wurden wir in der Kindheit fair behandelt, wurde das von Natur aus gegebene Potenzial der Empathie bei uns in Schwingung versetzt? Oder waren die Eltern selbst in ihrem Leben zu sehr enttäuscht von ihrer Umwelt, von ihren Mitmenschen, dass sie Liebe, Wahrnehmung und Achtsamkeit nicht weiter transportieren konnten an ihre Nachkommen?

Resümee

Die Diskussion der verschiedenen Arten oder Formen von Intelligenz mag als Anregung dienen, sich (weiterhin) Gedanken über die Gedanken zu machen. Wie können wir die Potenziale von Fluider, Kristalliner und Ethischer Intelligenz inspirieren und ausschöpfen?

Während der Kopf des Menschen im Vergleich zur Größe des Universums kaum ein Sandkorn darstellen dürfte, haben wir auf diesem kleinen Raum doch so etwas wie eine Galaxie, die ähnlich wunderbar und rätselhaft sein mag wie unsere Milchstraße. Hier zwischen 80 und 100 Milliarden Neuronen, dort zwischen 300 und 400 Milliarden Sterne. Unserer Köpfe sind im Gegensatz zu den Sternen so nah, doch sie bleiben – für den Moment – ein Mysterium. Ein Wunder der Natur, das allerdings von Zeit zu Zeit eines Impulses bedarf, damit wir unser Leben als Mensch und das Leben der Erdbewohner hin zum Guten entwickeln können. Ethische Intelligenz ist kein Selbstläufer. Sie ist ein Model für einen fairen und konstruktiven Umgang miteinander.

Grafiken und Text: Michael M. Roth, Copyright 2022.

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