Straßenfotografie ist die Musik des Alltags

Das Kalenderjahr 2014 neigt sich nun mit gefühlt immer größer werdenden Schritten dem Ende entgegen. Da es genau dieses Jahr gewesen ist, in dem ich die Straßenfotografie bzw. Street Photography für mich entdeckte, möchte ich noch vor Jahreswechsel meinen Blickwinkel auf und meine Eindrücke von diesem besonderen Genre der Fotografie reflektieren.

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

 

Während meiner bisherigen Karriere als Fotograf, die ich nach meiner Arbeit als Informatiker ab 2011 eingeschlagen habe, hatte ich in verschiedene Teilbereiche der Fotografie hinein geschnuppert. Von Portrait über Sportveranstaltungen (Handball, Volleyball, Ausdauersport), Kunst- und Kultur-Events bis hin zu Kongressen auf den Gebieten der Neuen Medien, Technologien und im Gesundheitswesen konnte ich Erfahrungen sammeln und Akzente setzen. Die Kongressfotografie sowie das szenisch-authentische Einfangen menschlicher Begegnungen gehören heute zu den Schwerpunkten meiner beruflichen Tätigkeit.

Zum Jahreswechsel 2013/14 war ich verstärkt auf Dokumentationen und Fotos international bekannter und anerkannter Fotografen gestoßen wie z. B. Henri Cartier-Bresson. Insbesondere die (scheinbar unglaubliche) Geschichte der Vivian Maier (siehe auch: „Finding Vivian Maier“) faszinierte mich. Sie war zu Lebzeiten in verschiedenen Familien bekannt als ein Kindermädchen. Unauffällig. Häufig zu sehen mit einer für heutige Begriffe altmodischen Analogkamera (Zweiäugige Rolleiflex Mittelformat), die sie oft nutzte, um aus der Hüfte Fotos zu machen. Die wenigsten dachten sich wohl (Tieferes) dabei. Bis ihr fotografisches Künstlererbe entdeckt und sukzessive der Weltöffentlichkeit bekannt gemacht wurde. So entgingen Vivian Mayer – von ihr so gewollt oder ungewollt – Ruhm und Anerkennung, die sie eigentlich bereits zu Lebzeiten verdient hätte!

Ich beschäftigte mich also mit der Straßenfotografie sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Und fand (für mich) heraus, dass es (mir) weniger um gestellte Anordnungen von Menschen geht als um das Einfangen von Szenen. Letztlich war dies eine Fortsetzung meiner Event-Fotografie, die oft eine Mischung aus beidem enthält: Posen für die Kamera (z. B. Aufnahmen von Menschengruppen bzw. Team-Fotos), aber doch auch ein beträchtlicher, wenn nicht überwiegender Teil an real ablaufenden, oft sehr dynamischen Szenen. Dieses authentische Einfangen natürlicher Abläufe hatte mir schon bei der (bestellten) Event-Fotografie große Freude bereitet. Street Photography kann zwar auch bedeuten das Einfangen von organisierten oder bestellten Straßenszenen und -projekten, doch die tiefere Seele von „Street“ liegt meiner Meinung nach im Unbesprochenen, im Zufälligen. Und ich bin überaus fasziniert, wie viele tolle, einmalige, bemerkens- und sehenswerte Szenen sich täglich auf unseren Straßen, sprich: in unseren Städten, in unserem gesellschaftlichen Leben abspielen. Street-Fotografie lüftet die Geheimnisse des Alltags, sie gleicht einer Art Musik, die man nur wahrnehmen kann, wenn man ein Auge dafür für das hat, was sich abspielt. Das Auge des Fotografen entspricht dem Ohr des Musikers!

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

 

Was zeichnet Straßenfotografie aus? Welche Attribute hat sie, die sie zu einer besonderen und wiedererkennbaren Kategorie der Fotografie werden lässt? Aus meiner Sicht wird der Mensch im urbanen Kontext abgebildet. Der Mensch, wie er sich – im günstigsten Fall frei und offen – in der Gesellschaft bewegt. Wie er kommuniziert, wie er sich verhält. Alleine, gemeinsam mit anderen. Wie er einen Raum ausfüllt und welcher Raum ihn umgibt. Typisch hierbei sind oft nur die Formen, die vielleicht individuellen Schablonen oder Silhouetten entsprechen können. Schwarz/weiß entspricht dem klassischen Stil der Zeitlosigkeit und Unvergänglichkeit. Zwar sind es Aufnahmen von konkreten Zeitpunkten, doch welche Epoche möchte nicht unvergänglich und unvergessen bleiben, so wie viele oder die meisten Menschen sich (eine Art von ) Unvergänglichkeit wünschen? Neben der offensichtlichen Baustelle des Marktplatzes von Karlsruhe (im Dienste der in mehreren Jahren zu erbauenden „U-Strab“) erkennt man beim offenbar sich in Eile befindlichen Menschen ein Smartphone in der linken Hand. Vor 20 Jahren gehörte dies nicht zum Straßenbild, und vermutlich wird es *in* 20 Jahren auch nicht mehr zum Straßenbild gehören (wenn das Smartphone noch smarter sein wird). Die Frau im nächsten Bild scheint mit dem Baustellenkran förmlich eins zu werden. Das ist sinnbildlich, metaphorisch, und kommt noch nicht mal von „ungefähr“. Es folgen ein Mann und drei Frauen, wie eine Waage, wie Yin und Yang, und eine klassischer Weise in der linken unteren Ecke endende oder beginnende Straßenbahnspur.

Straßenfotografie erfolgt sehr oft sehr nah, unmittelbar und mit einem Weitwinkelobjektiv. Natürlich darf man seine Straßenfotos auch in Farbe fotografieren, wie es das nächste Bild zeigt. Zumal es hier so schöne Muster und Linien gibt, die bei Belassen der farblichen Authentizität gut heraus kommen. Gleichzeitig gibt es sehr schöne und prägnante Formen wie der Hut und die Zöpfe und natürlich auch Körperformen, die durch eng anliegenden Kleidung besonders schön artikuliert werden.

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

 

Henri Cartier-Bresson, der bereits oben zitierte, renommierte Straßenfotograf, sagte einmal: „Ein gutes Bild ist ein Bild, das man länger als 1 Sekunde betrachtet.“. Das folgende Foto, so behaupte ich mal, *muss* man sich länger als 1 Sekunde anschauen, um den Punkt bzw. das Highlight der wiederum zufälligen Aufnahme zu entdecken. Ich habe eine entsprechende Verhaltensweise – das Erkennen nach einer Weile – bereits bei verschiedenen Betrachtern, wie z. B. den Teilnehmern meines Fotoworkshops, erleben können. Und auch dies ist nicht ganz untypisch für Straßenfotos, weswegen sie im Grunde sehr prädestiniertes Material für Kunstausstellungen bieten: Man sollte das Foto eine Weile betrachten. Vielleicht sogar das Foto nicht nur *an*schauen, sondern in das Bild, in die Szene „hinein schauen“. Es ist eigentlich unglaublich, wie viel man entdecken kann. In der Realität wie in den Fotos, die sie abbilden.

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

 

Wenn man durch gut gefüllte Straßen und Fußgängerzonen zieht, gibt es so viel Buntes zu entdecken. Ein Pärchen, das durch die gleiche Art von Körperschmuck (gemalt oder tätowiert) miteinander verbunden ist. Zwei Freundinnen, die neben den natürlichen wunderbare farbliche Reize bieten, die ich in diesem Fall sogar extra noch mit „Lightroom“ verstärkt habe. Und dann wiederum eine „Business Woman“ mit Formen und Körperhaltung, die so klar definiert sind, dass Farbe nur ablenken würde.

 

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

 

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

 

 

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

 

Manchmal benutze ich „Colour Key“, um eine Person oder eine Szene in den Vordergrund zu rücken. Der junge Mann scheint der (grün artikulierten) jungen Dame nicht nur perspektivisch (auf fast gleicher Höhe) zu folgen, sondern würde vielleicht auch gerne ihrer plakativ auf dem Shirt getragenen Aufforderung „Just kiss me“ folgen;-) Und wieder der städtische Bezug mit Gebäuden und Straßenbahnen.

 

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

 

Bei der folgenden Szene geht es mir explizit *nicht* darum, jemanden diskriminierend darzustellen. Es ist einfach ein Kontrastbild, das verschiedene Kulturen wiederspiegelt. Der geschätzte Leser, welchem Kulturkreis auch immer angehörend, darf sich gerne mit der einen oder anderen Seite identifizieren. Mir geht es bei meiner Straßenfotografie auch immer um Respekt und Wertschätzung. Dazu noch kurz etwas in den abschließenden Worten. Wie schon so oft ist auch dieses Foto „en passant“, d.h., im Vorbeigehen entstanden und besitzt somit einen hohen Grad an Authentizität.

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

 

Das folgende Bild gehört neben dem obigen mit dem Liebespaar (falls Ihr es noch nicht entdeckt hattet, das war das „länger anzuschauende“) zu meinen Lieblingsfotos in Sachen Straßenfotografie (wobei ich sie ja alle auf eine Art mag, sonst würde ich sie Euch nicht präsentieren!).

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

 

Wenn Du magst, liebe Leserin, lieber Leser, dann schau ruhig nochmal kurz nach oben, ehe ich etwas zur Entstehungsgeschichte sage und eine Interpretation wage.

Das Foto entstand im ECE-Center am Ettlinger Tor. Natürlich bietet das mehrstöckige Einkaufszentrum im Herzen von Karlsruhe eine Hülle und Fülle von Motiven im Kontext der Street-Fotografie. Zunächst entdeckte ich die beiden Damen, als ich das 1. Obergeschoss erreichte in meiner unmittelbaren Nähe. Vorhin sprach ich davon, dass in der Straßenfotografie Bilder oft mit Weitwinkelobjektiven gemacht werden. In diesem Fall hatte ich aber ausgerechnet mein Teleobjektiv (70-200 mm) auf meinem DSLR-Body (also an der Kamera „angeschraubt“). Schließlich entfernte ich mich von beiden, um auf einer der nächsten Querbrücken im 1. OG mich umzudrehen und die beiden in den Sucher meiner Kamera zu rücken. Ich machte glaube nur 1 oder 2 Fotos und hatte „die Szene“ im Kasten. Die Szene, die zwei junge, attraktive Damen zeigt, die gefühltermaßen eng miteinander verbunden sein müssen. Ich würde sie für beste Freundinnen halten, für Schwestern, vielleicht sogar Zwillinge. Die Körpersprache beider spricht Bände. In meinen Augen ist es eine wunderschöne und hoch emotionale, sinnliche, nachdenkliche Szene.

Ich hoffe, dass ich Euch ein wenig in meine (Art der) Straßenfotografie einführen konnte. Neben der rein fotografischen Sicht gibt es immer auch die rechtliche. Gerade in Deutschland befindet sich derzeit die Straßenfotografie in einer rechtlichen Grauzone. Im Kunsturhebergesetz wird einerseits das „Recht am eigenen Bild“ hervorgehoben. Auf der anderen Seite kann ein Foto dem „höheren Zwecke der Kunst“ dienen. Für mich steht die Frage, wie man Mensch und Gesellschaft (einer Zeit) überhaupt authentisch festhalten möchte oder kann, wenn die Gesetze so restriktiv sind, dass man keine Menschen mit (erkennbarem) Gesicht fotografieren darf. Ich möchte mit meinen Fotos ausdrücklich für einen offeneren Umgang mit Impressionen aus dem Alltag werben. Eine wichtige Dependenz im Kontext mit dem offenen Umgang wäre allerdings der *respektvolle* Umgang – nicht nur mit Menschen, denen man persönlich auf der Straße begegnet, sondern auch mit Lichtbildern von ihnen. In wenigen Jahren, seien es 10, 20 oder 30, auf jeden Fall in nicht all zu ferner Zukunft, wird jeder von jedem auf der Straße unendlich viele Fotos machen können. Die Fragen von Respekt und Wertschätzung lassen sich nicht über die Machbarkeit von Technologien beantworten. Die Technologien kommen so oder so. Die Frage wird sein, wie wir damit umgehen. Wenn wir Straßenfotos als eine kreative Mischung aus Dokumentation und Kunst betrachten, können sie nur einen Gewinn darstellen, sowohl für die gegenwärtige als auch für folgenden Generationen.

Links zum Thema Straßenfotografie in Deutschland:

https://www.facebook.com/MicialMediaStreet
http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/mdr/2014/sendung-vom-07122014-102.html
http://neunzehn72.de/mein-recht-am-bild-lasse-ich-mir-nicht-nehmen/

 

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